08.07.2022 - Seelsorge-Kolumne in der tz

 
Der tägliche tz-Ratgeber
heute: Ihre Sorgen


Wie wir uns alle richtig vertragen

 

Vom Philosophen Schopenhauer gibt es eine Story, die 200 Jahre alt ist und doch topmodern: Die Stachelschweine. Der Philosoph beschrieb mit seiner Parabel das menschliche Problem, den richtigen Abstand auszuloten.

Pfarrer Johannes Habdank meint, dass diese Geschichte immer noch wahr ist...

 

 

Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich an einem kalten Wintertage recht nah zusammen, um sich durch die gegenseitige Wärme vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald bekamen sie die gegenseitigen Stacheln zu spüren, was sie dann wieder voneinander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wiederum näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel, sodass sie zwischen beiden Leiden hin und her geworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung voneinander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten. So treibt das Bedürfnis der Gesellschaft die Menschen zueinander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler stoßen sie wieder voneinander ab. Die mittlere Entfernung, die sie endlich herausfinden, ist die Höflichkeit und feine Sitte. Vermöge derselben wird zwar das Bedürfnis gegenseitiger Erwärmung nur unvollkommen befriedigt, dafür aber der Stich der Stacheln nicht empfunden. Wer jedoch viel eigene, innere Wärme hat, bleibt lieber aus der Gesellschaft weg, um keine Beschwerde zu geben, noch zu empfangen.“

Wie die Stachelschweine müssen wir Menschen unsere Nähe und Distanz zu den anderen auch immer wieder neu austarieren, um es miteinander auszuhalten, uns das Leben nicht zu schwer zu machen und doch einander Nähe und Wärme zu geben.
 
Ich kenne ein Brautpaar, das tatsächlich zwei Stachelschweine besitzt, die sie großziehen. Das Paar erlebt seine Beziehung bis heute in etwa so, wie von Schopenhauer beschrieben, nur: Die Stachelschweine würden mehr stinken und seien um einiges hässlicher als sie beide. Die Stachelschweine seien auch um einiges schwerer erziehbar als sie beide, wobei bei ihnen selber unklar sei, wer eigentlich wen dressiert ... Ihre eigene Liebe sei auch größer als die der Stachelschweine zueinander. Vom Apostel Paulus, Hohelied der Liebe, war entsprechend ihr Trauspruch: „Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Die Liebe hört nimmer auf.“ Liebe Grüße an die Stachelschweine – und an alle Menschen!

 

DER TÄGLICHE tz-RATGEBER heute: Ihre Sorgen (Münchner Merkur/tz, 08.07.2022)