Predigt von Pfarrer i.R. Dr. Gerhard Pfister am Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres: "Herbst"
Liebe Schwestern und Brüder,
ich weiß nicht, wie bewusst Sie in diesem Kriegs- und Krisenjahr den Herbst erleben. Ich halte es aber für durchaus wahrscheinlich, dass die meisten von Ihnen auch heuer die sonnigen Herbsttage und die bunten Farben in der Natur nicht nur einfach so als Tatsachenfeststellung, sondern mit Freude wahrgenommen haben.
Auch die letzten Tage, nicht mehr im sprichwörtlich goldenen Oktober, sondern schon im November, waren sonnig und warm und farbenfroh. Die Blätter an den Bäumen und das Laub an den Büschen haben sich endgültig herbstlich gefärbt. Was im Frühjahr und Sommer grün war, erstrahlt in einer Vielzahl von Farben, vor allem in Gelb- und Rottönen. Nicht nur die Blätter, auch die Früchte, die wir geerntet haben, die Äpfel, die Trauben, die goldenen Getreideähren und viele andere. Manche sind noch gar nicht geerntet, stehen noch auf Feldern und in Gärten wie die vielen sonnig hell leuchtenden Sonnenblumen mit ihren dunklen reifen Kernen in der Mitte jeder Blüte, die mir in den letzten Tagen in Niederbayern besonders aufgefallen sind. Herrliche bunte Farben, ein Genuss nicht nur zum Anschauen, sondern auch zum Verzehren. Grund genug, sich zu freuen und alles dankbar zu genießen.
Beim Erntedankfest Anfang Oktober haben wir diesen Dank und diese Freude besonders gefeiert. Und wir tun es heute noch einmal, indem wir über die geernteten Lebensmittel hinaus ganz umfassend die strahlend bunte Lebensfülle des Herbstes feiern, wie wir sie in diesen Tagen und immer wiederkehrend jedes Jahr neu erleben dürfen.
Ja, jedes Jahr! Schon in biblischen Zeiten haben die Menschen das als besonderes Geschenk Gottes erkannt. Die Bibel erzählt es uns in Form einer Zusage Gottes an Noah nach der großen Flut: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ Diese Zusage Gottes ist nach der Erzählung der Bibel sogar verbunden mit einem besonderen Kennzeichen, wir würden heute sagen: mit einem besonderen Logo, dem Regenbogen, der die strahlend bunte Vielfalt der Farben in einem umfassenden Spektrum bündelt. Gerade wenn wir heute den Herbst feiern, kann deshalb der Regenbogen ein ausdrucksvolles, alles zusammenfassendes Symbol sein.
„Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer (Herbst) und Winter, Tag und Nacht.“ Diese Worte, die wir wahrscheinlich alle schon einmal gehört haben und heute auch auf unserem Gottesdienstblatt lesen können, weisen uns auf ganz entscheidende Bedingungen und Voraussetzungen unseres Lebens hin. Unser Leben verläuft in Rhythmen, die wir nicht selbst gemacht haben, sondern in die wir hineingestellt sind. Wir sind heute am Morgen aufgestanden, weil es Tag war. Unser Rhythmus von Schlafen und Wachsein folgt dem Rhythmus von Tag und Nacht. Wir sind daran so gewöhnt, sogar trotz mancher schlaflosen Nächte, dass wir es für selbstverständlich nehmen. Deshalb ist es gut, wenn wir auf die Grundrhythmen aufmerksam gemacht werden, die unser Leben bestimmen. Wer sie sich bewusst macht, kommt unwillkürlich ins Staunen: Aha, so ist das! Ein ständiger Wechsel in meinem Leben. Kürzere und längere Rhythmen gestalten mein Leben: Einatmen und Ausatmen, Tag und Nacht, die Jahreszeiten Frühjahr. Sommer, Herbst und Winter. Alles scheint so selbstverständlich und ist es doch nicht. Es ist keineswegs selbstverständlich, dass auf Herbst und Winter ein neuer Frühling folgt. Es ist keineswegs selbstverständlich, eher ein überraschender Anlass zum Staunen und zur Dankbarkeit.
Aus dieser alten Geschichte von Noah und der Flutkatastrophe, besonders aus ihrem überraschenden Abschluss, den wir gerade wieder gehört haben, können wir das Staunen neu lernen.
Die Rhythmen, in denen ich lebe, die meinem Leben vorgegeben sind, sind ein Geschenk. Verlässlich, auf Dauer, freilich nicht für die Ewigkeit. „So lange die Erde steht“, das wird also irgendwann ein Ende haben, genau wie mein Leben, das mit meiner Geburt begonnen hat, ein Ende haben wird und nicht nur aus einem Kreislauf von Rhythmen besteht, der sich immer wiederholt.
(Das macht jeden Augenblick einmalig und kostbar, jeden einzelnen Augenblick und jeden Lebensabschnitt, jede Lebensphase. Im Herbst des Lebens kann einem das vielleicht besonders bewusst werden: einmalig und kostbar).
Aber solange die Erde steht sind uns für unser Leben verlässliche Rhythmen gegeben, dass es in all dem ständigen Wechsel und Wandel stabil bleiben kann.
Wer es möchte, kann die 4 Jahreszeiten Frühling, Sommer, Herbst und Winter auch auf die Abschnitte und Phasen des eigenen Lebens übertragen, und zum Beispiel, wie es viele ältere Menschen aus eigener Erfahrung tun, ich selbst gehöre auch dazu, vom Herbst des Lebens als einer besonders schönen Lebensphase sprechen.
Beim nächsten Musikstück der Orgel, das die bunten und frohen Gedanken des Herbstes aufgreifen und auf seine Weise ausdrücken möchte, können Sie auch darüber nachdenken.
II.
Vielleicht sind Ihnen vorhin, falls Sie bei der Orgelmusik über den Herbst des menschlichen Lebens nachgedacht haben, schon ähnliche Gedanken gekommen, wie sie in der Erzählung von Felix Salten und dem Herbstgedicht von Rainer Maria Rilke anklingen.
Zweimal ist die Rede davon, dass die Blätter, die herbstlich schönen bunten Blätter, (bei Rilke werden sie sogar verglichen mit den Pflanzen in den himmlischen Gärten) welken und schließlich abfallen, absterben und vergehen. Keinerlei Gedanken an die neuen Blätter, die der nächste Frühling bringen wird! Dagegen, obwohl nur angedeutet und nicht explizit gesagt, deutliche Hinweise auf den Menschen, auf den Herbst seines Lebens mit Blühen und Reifen und vor allem Welken und Absterben.
Die zwei Blätter am Ast stehen für Menschen und ihre Fragen, die nur angerissen und nicht beantwortet werden. Es sei denn, man hört aus den letzten Sätzen des letzten Blattes eine ähnliche Antwort wie bei Rainer Maria Rilkes Herbstgedicht heraus.
Dort werden die Menschen in ihrer Vergänglichkeit ganz ausdrücklich parallel zu dem herbstlichen Blättern gesehen, ähnlich wie die Blätter der Bäume im Wind zwischen Himmel und Erde. Rilke zeichnet in seinem Herbstgedicht riesige alte Bäume, die einzeln dastehen, mit bunten Blättern, die welken und herabfallen, unendlich weit hinunter fallen zur Erde. Und letztlich dasselbe wird über uns Menschen gesagt: Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. Und sieh dir andre an: Es ist in allen.
Es ist schrecklich: Es ist ein Fallen mit verneinender Gebärde. Und dennoch, was nicht mehr zu erwarten war, ist das Fallen erstaunlich leise und sanft. Dass das Bild vom Fallen in Rilkes Herbstgedicht weicher aussieht als unsere Erfahrung vom Fallen oder gar das absolut negative Fallen mit verneinender Gebärde, liegt an Rilkes letztem Satz, vor allem an der Beschreibung „unendlich sanft“: „Und doch ist einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält“.
Was für ein Kontrast: Fallen bis ganz nach unten, herunterfallen, verwelken, verfallen. Und als Kontrapunkt zum Fallen ist da einer, der seine Hand bereit hat, um alles, was da fällt, zu halten.
Das ist die wirklich gute Botschaft für den Herbst, der das Blühen und Reifen des Sommers vollendet und auf den Winter zuläuft, die gute Botschaft für die Erde und für unser Leben. Wir sind geborgen in Gottes Hand. Aus seiner Hand dürfen das Schöne und das Glück des Augenblicks nehmen. Und selbst vor dem Verwelken, vor dem Ende, dem letzten Fallen brauchen wir keine Angst zu haben. Seine Hand hält und birgt uns nämlich auch da noch. Denn gerade da ist einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.
Amen