Predigt von Pfarrer Johannes Habdank am 1. Weihnachtsfeiertag 2022 über Lukas 2, 15-20, besonders 2,19
Liebe Gemeinde!
„Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.“
Auf diesen Vers möchte ich heute unsere Aufmerksamkeit richten: „Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.“
Ein Satz, der zum Inventar der Weihnachtsgeschichte gehört. Wir hören ihn, und indem wir ihn hören, zieht er an uns vorbei. Wir verweilen nicht lange bei einzelnen Sätzen; es ist die Geschichte als Ganze, die wir zu uns sprechen lassen, damit sie uns in weihnachtliche Geborgenheit hüllt.
Bevor wir uns diesem Satz des Näheren widmen, lese ich den biblischen Text als Ganzen - aus dem Lukasevangelium, Kapitel 2, Verse 15-20:
Und als die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Lasst uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat. Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen. Als sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. Und alle, vor die es kam, wunderten sich über das, was ihnen die Hirten gesagt hatten. Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.
Dieser Abschnitt der Weihnachtsgeschichte erzählt, wie die Hirten durch Engel in Bewegung gebracht werden. Die Hirten brechen auf, gehen nach Bethlehem und finden alles so vor, wie es ihnen die Engel verkündigt haben. Sie erzählen weiter, was sie von den Engeln erfahren haben und bringen ihre Zuhörer zum Staunen. Anschließend kehren sie nach Hause zurück und stimmen ein in das Lob der Engel. Inmitten der vielen Sätze über die Hirten und wie sie vom himmlischen Geschehen in Bethlehem sichtbar ergriffen werden, schreibt Lukas den bescheidenen Satz über Maria: „Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.“ Maria ist bewegt von dem, was sie erlebt. Im Unterschied zu den Hirten ist ihre Bewegtheit aber äußerlich nicht wahrzunehmen, geschieht eher in ihrem Innern. Maria nimmt sich zu Herzen, was sie von den Hirten erfährt, obwohl die Botschaft nicht neu für sie ist. Bevor sie schwanger wurde, war ihr der Engel der Verkündigung selbst schon erschienen, um ihr zu eröffnen, dass ihr Kind der Heiland der Welt sein wird. Schon neun Monate hat sie sich mit dem anfreunden können, was für die Hirten in der Nacht der Geburt wie aus heiterem Himmel kam. Wie sie die Worte des Engels der Verkündigung verinnerlicht hat, verinnerlicht sie nun die Worte der Hirten und der Engel. Das beansprucht ihre Aufmerksamkeit.
Der Evangelist Lukas ist ein feinsinniger Erzähler. Während er die Ergriffenheit der Hirten lebendig beschreibt, hält er sich bei der inneren Bewegtheit der Maria zurück. Behutsam drückt er es in einem Satz aus, ohne in ihre innere Welt Einblick zu nehmen. Was in Marias Herz vorgeht, bleibt ihr Geheimnis.
Es ist nicht irgendeine beliebige Verhaltensweise, die da Maria an den Tag legt, sondern eine innere Haltung zu Gott und dem was sie vernimmt, sich zu Herzen nimmt, also innerlich erlebt und erfährt von Gott. Das zeichnet Maria aus, wie wir aus dem Lukasevangelium auch noch an anderer Stelle erfahren. Ich meine die Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel. Im Alter von zwölf Jahren geht Jesus bei einer Pilgerreise mit seinen Eltern und der ganzen Verwandtschaft (wohl auch mit Johannes, dem späteren Täufer und Lehrer Jesu, beide als Kinder noch) nach Jerusalem verloren. Seine Eltern, schon auf halbem Weg nach Hause, machen sich auf die Suche, kehren noch einmal zurück nach Jerusalem und finden ihn nach drei Tagen im Tempel. Er ist ins Gespräch mit theologischen Autoritäten vertieft. Als Jesus seinen Eltern sein Verhalten erläutert, verstehen sie ihn nicht. Lukas schließt diese Begebenheit mit den Worten: „Und seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen.“
Wieder ist Maria still und besonnen. Sie hat sich Sorgen um ihren Sohn gemacht. Sie hat sich gewünscht, dass er seinen Eltern zumindest Bescheid sagt, wenn er sich nicht mit auf die Heimreise macht. Sie versteht seine Antwort nicht: „Warum habt ihr mich gesucht? Wisst ihr nicht, dass ich im Hause meines Vaters sein muss?“(Lk 2, 49) . Sie versucht nicht, mit dem Verstand zu begreifen, was sie erlebt. Wieder senkt Maria die Worte, die sie gehört hat, in ihr Herz ein. Sie vertraut, dass ihr der Sinn zu seiner Zeit offenbar wird.
Was Lukas hier beschreibt, ist mehr als Marias persönliche Eigenart; genau diese Haltung legt Jesus seinen Zuhörerinnen und Zuhörern ans Herz, als er ihnen das Gleichnis von der selbst wachsenden Saat später erzählt und auslegt. Die Saat, die ein Sämann ausstreut, fällt auf unterschiedlichen Boden. Frucht bringt sie nur, wenn sie auf gutes, fruchtbares Land fällt, in dem die Saat Wurzeln schlagen und ungehindert wachsen kann. Genauso ist es mit dem Wort Gottes. „Das aber auf dem guten Land sind die, die das Wort hören und behalten in einem feinen, guten Herzen und bringen Frucht in Geduld.“ (Lk 8,15) Was Jesus von denen, die ihm zuhören, erwartet, hat seine Mutter ihm vorgelebt, als er Kind war, hat er an ihr wahrgenommen, als er ihr später als erwachsener Sohn begegnete oder sie unter seinen Zuhörern fand. Maria hat Gottes Wort in ihr Herz genommen, innerlich vernommen. Sie hat jedes Mal aufmerksam hingehört, was Gott ihr mitteilt – zu Beginn durch Engel, später durch ihren Sohn Jesus. Niemals hat sie geglaubt, dass sie nun alles begriffen hat. Sie konnte offenlassen, hat die gehörten Worte behalten und in ihrem Herzen bewegt, geduldig wirken lassen. So haben sie in ihr Wurzeln geschlagen, sind in ihr gewachsen, haben Frucht getragen. Das hat sie getragen, auch als ihr Sohn den Weg in den Tod gegangen ist. Ihr Vertrauen zu Gott ist so groß, dass sie ihrem Sohn und seiner Sendung treu bleibt über seinen Tod hinaus.
Der Evangelist Lukas berichtet in der Apostelgeschichte, dass Maria nach der Kreuzigung bei den Jüngern in Jerusalem bleibt und sie „einmütig im Gebet“ beieinander sind (Apg 1,14). Es ist dieselbe Haltung, die Maria von Anfang an eingenommen hat: Sich zu Herzen zu nehmen, was sie mit Gott erlebt und erfährt, und ihre ganze Aufmerksamkeit darauf zu richten.
Lukas will mit dieser Lebensgrundhaltung der Maria seine Leser und Hörer damals wie heute dazu bewegen, auch solche Menschen zu wer-den. Menschen wie Maria, die aus innerer bescheiden frommer, demütiger Glaubenshaltung ihr Leben leben. Menschen, die geduldig sind und sich immer wieder in dieser Grundhaltung üben. Diese Haltung ist nichts Lautes, Spektakuläres, nichts Aktionistisches, nichts, womit man angeben könnte – nein: zur Ruhe kommen, zur Besinnung, Aufmerksamkeit und Konzentration auf das Wesentliche – im Glauben, so dass daraus Früchte fürs Leben und den Alltag wachsen. Ja, es muss wachsen, es braucht Zeit, und du musst auch vieles offen lassen, habe Geduld.
Und das kann damit beginnen, dass wir uns eine Krippe anschauen und uns in die einzelnen Figuren hineinversetzen. Und so zur Ruhe kommen und uns auch vorstellen, wie wir im Stall sitzen wie Maria, horchend, lauschend auf das Wort, das sie vernimmt. Wir können uns einen Satz aus der Weihnachtsgeschichte nehmen und unsere innere Aufmerksamkeit auf ihn richten, damit er zu uns spricht, uns anspricht. An Weihnachten ist es weitaus leichter damit anzufangen, als zu jeder anderen Kirchenjahreszeit, weil wir eine Botschaft hören, die Freude machen will. Wenn sie in uns Wurzeln schlägt, können wir die Botschaft von Jesu Sterben und Tod in der Passionszeit besser ertragen und aufnehmen.
Ich schließe mit Worten des Dichters Rainer Maria Rilke, Brief an Franz Xaver Kappus vom 16. Juli 1903:
„Ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, …, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.“
Amen.