Predigt an Trinitatis 2021 über Johannes 3,1-8(9-15) von Pfarrer i.R. Dr. Gerhard Pfister
Liebe Gemeinde!
Wir leben im Zeitalter der Meinungsforschung. Bei den Wahlen, etwa bei der Bundestagswahl im Herbst, werden schon jetzt Woche für Woche Umfragen gestartet, um die Wahlergebnisse vorauszusagen. Auch in der Kirche gibt es immer wieder solche Umfragen zu den verschiedensten Themen, zu Einstellungen und Überzeugungen. Z.B. Was veranlasst Menschen zum Gottesdienst zu kommen? Wir wissen, die übergroße Mehrheit auch der Kirchenmitglieder sieht dazu abgesehen von Weihnachten überhaupt keinen Anlass, und beim Rest würden die Antworten sicher unterschiedlich ausfallen: Da sucht jemand nach Antworten auf bedrängende Lebensfragen, andere möchten am Sonntag Abstand gewinnen vom Alltag und neue Kraft schöpfen, möchten feiern in Gemeinschaft oder sind einfach offen und neugierig. Was als Anlass genannt wird, sind also bestimmte Erwartungen. Irgend etwas, was da im Bereich der Gemeinde, der Kirche und des Glaubens passiert, hat Interesse geweckt. Man erwartet, auf die Fragen des eigenen Lebens eine Antwort oder eine Ermutigung zu bekommen.
Wenn ein Prediger oder Gesprächspartner gar nicht versucht, auf die Hoffnungen und Nöte der Menschen einzugehen, sondern sich glatt darüber hinwegsetzt, empfinden wir das als Versagen und wohl auch als Unverschämtheit.
In der Geschichte von Nikodemus haben wir aber genau einen solchen Fall. Da ist einer, dem es mit seinen Fragen so ernst ist, dass er sogar in der Nacht zu Jesus kommt. Die Ausstrahlung dieses Jesus, das, was in seiner Umgebung passiert, hat ihn ergriffen und lässt ihn nicht mehr los. Er will fragen, diskutieren, sich belehren lassen, ja er ist von vornherein fasziniert von Jesus und bekennt das ganz offen: Meister, du bist ein Lehrer von Gott gekommen, denn niemand kann die Zeichen tun, die Taten vollbringen, die du tust, es sei denn Gott mit ihm.
Aber er erhält eine schroffe Abfuhr. Ihm wird sogar das Wort abgeschnitten, schon bevor er eine Frage oder Bitte aussprechen kann. Und das nicht von einem Pfarrer, an dessen Eignung für seinen Beruf man dann zweifeln kann, sondern von Jesus selbst. Dem Nikodemus wird knallhart gesagt: Deine ganzen Fragen und alle Antworten, die es auf sie gibt, greifen zu kurz. Du brauchst etwas ganz anderes.Du musst musst ein neuer Mensch werden, du musst von neuem geboren werden, sonst ist alles umsonst. Und Nikodemus muss sich diese groteske Zumutung bieten lassen: Ein alter Mann und noch einmal geboren werden! Soll er sich ärgern oder darüber lachen?
Nun könnte freilich jemand auf die Idee kommen: Nikodemus ist ja selbst schuld. Er hat nicht erkannt, dass das mit dem von neuem geboren werden, gar nicht so unsinnig, sondern ein interessantes und wichtiges Problem ist. Viele haben es erkannt, es ist heute ausgesprochen aktuell, nicht nur in bestimmten religiösen Strömungen vom Hinduismus und Buddhismus bis hin zum evangelikalen und charismatischen Christentum, vor allem in Amerika.
Nein, weit über den Bereich der Religionen hinaus. Ja, sogar die Werbung geht darauf ein, und sie täte es nicht, wenn es nicht ein tiefes Bedürfnis der Menschen gäbe. Selbst für Badeschaumgel und Kosmetikpräparate wird geworben mit der Verlockung: Man fühlt sich wie neu geboren. Nicht wenige Menschen fasziniert sogar die Möglichkeit, ihren Körper einzufrieren, dass er klinisch tot ist, aber nach dem Auftauen wieder zu neuem Leben erwacht.
Das alles klingt faszinierend, aber kann man es deshalb schon „von neuem geboren werden“ nennen? Ist es wirklich ein neuer Anfang oder geht das Leben nur genau an dem Punkt weiter, an dem es vorher aufgehört hat? Also kein neuer Anfang, sondern nur eine Fortsetzung des alten?
Ja, genauso ist es, selbst mit unseren modernsten Möglichkeiten können wir ein „von neuem Geboren werden“ nicht bewerkstelligen. Dass uns die Werbung für Schönheitscremes und andere Mittelchen erst recht nur eine Illusion vorgaukelt, braucht nicht besonders betont zu werden. Es ist eine Illusion, zu glauben, dass man aus der eigenen Haut herausschlüpfen und aus den festen Geleisen unseres Lebens ausbrechen kann. Die Uhr unseres Lebens lässt sich nicht einfach zurückdrehen oder gar durch eine neue ersetzen.
Von einem wirklichen neuen Anfang, von einer neuen Geburt ist da nichts zu bemerken, das liegt völlig außerhalb unserer Möglichkeiten, und wir sehen wohl ein, dass wir für diese neue Geburt so wenig tun können wie wir für unsere Geburt, durch die wir auf die Welt kamen, tun konnten.
Und doch will Gott uns diese neue Geburt schenken, die neue Geburt von oben her, von Gott her. Man kann das Jesuswort „Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen“ auch übersetzen „Wenn jemand nicht von oben her geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen“. Das griechische Wort (anothen heißt es, aber das muss man sich nicht merken) hat beide Bedeutungen und hier im Johannesevangelium gehören beide zusammen, von neuem und von oben, beide gelten gleichermaßen.
Gott ist es, der uns die neue Geburt schenkt, die Geburt von oben aus seinem Geist. Als großes Geschenk, nicht als Ergebnis unserer Bemühungen, völlig jenseits von unseren eigenen Möglichkeiten. Als unerwartetes Geschenk durch den Geist Gottes, der weht, wo er will, wo Gott will, nicht wo wir wollen.
Das sagt Jesus nicht nur dem Nikodemus, das ist die Botschaft des Evangeliums für die Christen des ersten Jahrhunderts und genauso für uns heute:
Gott will, dass wir neue Menschen werden. Wir sind noch nicht fertig. Es kommt noch etwas, und das ist die Hauptsache. Aus uns wird noch etwas, und das hat mit Jesus Christus, der in uns wirkt durch die Lebenskraft des Geistes, schon angefangen, kommt deshalb nicht erst in der Zukunft.
Es hat schon angefangen: Das, was Gott mit uns vorhat, was er uns schenkt, was so neu ist, dass es nur als neue Geburt bezeichnet werden kann.
Und damit meint das Evangelium nicht nur einen innerlichen, geistig-seelischen Vorgang. Nein, Gott will ganz real neue Menschen aus uns machen. Menschen, die den anderen, mit denen sie zusammenleben, nicht mehr bei jedem Streit alle ihre Fehler vorrechnen, sondern es fertig bringen, die andere oder den anderen als ganzen Menschen zu lieben, trotz oder vielleicht sogar wegen ihrer oder seiner Unzulänglichkeit.
In den familiären Beziehungen, im Beruf, in der Weise, wie wir unsere Freizeit gestalten, überall will sich das neue Leben auswirken. Überall will Gott die Grenzen, in denen wir gefangen sind, zerbrechen, neue Lebensmöglichkeiten erröffnen.
Und das gilt nicht nur für Leute, die das ganze Leben noch vor sich haben. Nicht umsonst wird Nikodemus angesprochen. Er ist ja ein alter Mann, hat den größten Teil seines Lebens hinter sich, die Kräfte lassen nach, die Möglichkeiten werden weniger.
Auch für einen älteren Menschen, dem heute anders als zur Zeit des Nikodemus, wo die Alten noch besonders angesehen waren, überall und überdeutlich klar gemacht wird: Du gehörst zum alten Eisen, du kannst das Tempo des Lebens mit seinen schnellen Wechseln nicht mithalten, gilt genauso wie für die Jüngeren: Du bist nicht am Ende. Gott hat noch etwas vor mit dir!
Da ist vielleicht sogar der frühzeitige und oft nicht ganz freiwillige Ruhestand eine Chance, offen zu werden für neue Lebensmöglichkeiten, die Gott schenkt, in neuen und erneuerten menschlichen Beziehungen, nicht zuletzt auch Begegnungen in der Gemeinde. Da lässt es sich erfahren, lässt es sich auch für andere beobachten, dass verschlossene Menschen in ganz neuer Weise offen werden, mit einer Hoffnung und fröhlichen Gelassenheit, die ausstrahlt.
Das Johannesevangelium nennt dieses neue Leben auch das ewige Leben, das Jesus Christus uns schenkt und das nicht erst nach dem Tod beginnt, sondern hier und jetzt.
Von neuem geboren werden, neues Leben mit Ewigkeitsqualität, das ist keine Theorie, sondern das dürfen wir als Realität erfahren, hier und jetzt. Wir können es nicht theoretisch begreifen, da scheitern wir wie Nikodemus. Denn es bleibt Geheimnis, Gottes Möglichkeit, nicht unsere eigene. Aber dennoch nicht weniger eine reale Erfahrung.
Amen
Livestream-Video vom Gottesdienst
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